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15.5.1942: Viktor Klemperer: Verbot von Haustierhaltung
Deutschland im Mai 1942: Die Weichen für die Mordmaschinerie der Nationalsozialisten sind längst gestellt, die so genannte "Endlösung" der Judenfrage ist beschlossen. Die Menschen, zu deren kollektiver Ermordung die Wannsee-Konferenz im Januar 1942 das endgültige Startzeichen gibt, werden gebrandmarkt, terrorisiert, verfolgt.

So auch der jüdische Hochschullehrer Victor Klemperer. Dem Literaturwissenschaftler und -historiker ist seine Lehrtätigkeit an der Dresdner Universität von den Nationalsozialisten genommen worden. Auswandern will er nicht. Seit zwei Jahren lebt er - geschützt durch seine nicht-jüdische Frau Eva - im so genannten "Judenhaus" in Dresdens Caspar-David-Friedrich-Strasse 15B zusammen mit Menschen, die das gleiche Schicksal teilen, auf drangvoll engem Raum.

Ihr eigenes Haus haben die Klemperers aufgeben müssen, retten konnten sie nur wenige Stücke ihrer Habe und Kater Muschel. Victor Klemperer führt Tagebuch in den Jahren zwischen 1933 und 1945. Seine Aufzeichnungen spiegeln den Verfall der Zivilisation in Deutschland in jener Zeit.

Über 50 Jahre später werden seine Tagebücher unter dem Titel "Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten" veröffentlicht und zum Bestseller werden, eine Chronologie der nationalsozialistischen Terrorherrschaft, am eigenen Leibe erlebt, nüchtern, akribisch, beklemmend-eindrucksvoll. Im März 1942 - Hitler wird noch drei Jahre an der Macht sein - notiert Victor Klemperer in sein Tagebuch:

"Eins muss im Lauf der nächsten Monate geschehen: Entweder Hitler geht zugrunde oder wir gehen zugrunde."

Ein Stück Normalität, das die Klemperers sich in dieser Zeit bewahrt haben, ist Kater Muschel. Ein vertrautes Lebewesen, das sie hätscheln und pflegen, in einem Alltag, der durch immer mehr Sonderverordnungen kaum noch lebenswert ist. 31 solcher Verordnungen zählt Victor Klemperer auf: Verbot von Radio, Kino, Konzert, Museum, Autobusbenutzung, Blumenkauf, Friseurbesuch, Betreten des Bahnhofs und der Blumenwiesen im Park, Zwangsablieferung von Schreibmaschinen, Verbot der Leihbibliotheken, der Restaurants, Einkaufsbeschränkung auf eine Stunde, keine Fischkarte, kein Kaffee, keine Schokolade, kein Obst, keine Kondensmilch, usw., usw.

Diese Punkte aber, so Klemperer, sind alle zusammen gar nichts gegen die ständige Gefahr der Haussuchung, der Misshandlung, des Gefängnisses, Konzentrationslagers und gewaltsamen Todes.

Dann notiert er in sein Tagebuch: "15. Mai 1942, Freitag gegen Abend. Frau Ida Kreidl, die ich auf dem Einkaufsweg traf, berichtete die neueste Verordnung, gab sie uns dann im jüdischen Gemeindeblatt zu lesen: Sternjuden und jedem, der mit ihnen zusammenwohnt, ist mit sofortiger Wirkung das Halten von Haustieren (Hunden, Katzen, Vögeln) verboten, die Tiere dürfen auch nicht in fremde Pflege gegeben werden. Das ist das Todesurteil für Muschel, den wir über elf Jahre gehabt und an dem Eva sehr hängt. Er soll morgen zum Tierarzt geschafft werden, damit ihm die Angst des Abgeholtwerdens und gemeinsamer Tötung erspart bleibt."

Muschel, der Kater, ist für Victor und Eva Klemperer ein Symbol des Lebens, ihres Überlebens. Für ihn haben sie sich die Rationen buchstäblich vom Munde abgespart, oft haben sie sich gesagt: Der erhobene Katerschwanz ist unsere Flagge, wir streichen sie nicht, wir behalten sie hoch, wir bringen das Tier durch, und zum Siegesfest bekommt der Muschel "Schnitzel vom Kamm" (dem feinsten Kalbschlächter hier). Dass diese Flagge nun niedergeht, mache sie beinahe abergläubisch.

Das bevorstehende Ende ihres Katers ist für Victor und Eva Klemperer ein besonders schlimmer Schock unter der Menge der täglich wachsenden Bedrängnisse. Er lastet schwer auf ihnen. Ein anderer, schreibt Klemperer, mag das lächerlich oder gar unsittlich finden, wo so viele um ihre Angehörigen leiden.

Autorin: Christa Kokotowski
   
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